Rückschritt als "Fortschritt" ? Wenn eine Krankheit nicht als "Eigenproduktion" erkannt wird, wird die Krankheitsbekämpfung wie früher zur "Teufelsaustreibung" - notfalls per OP
Sieben Jahre in Fesseln - der 24-jährige muss vor
sich selbst geschützt werden.
Er leidet unter autoaggressiven Gedankenzwängen und Tics, die ihn minütlich
heimsuchen - wäre er nicht am Bett fixiert, würde er sich schwer verletzen,
mit Fäusten und Kopf an die Wände schlagen oder über unüberwindbar
hohe Mauern zu springen versuchen. Die behandelnden Psychiater betrachten ihn
als "austherapiert", zehn Jahre Medikamente und Psychotherapie haben
nichts gebracht. Ein renommierter Kölner Neurochirurg, Prof. Volker Sturm,
verspricht Heilung durch OP am Gehirn.
Noch ist Professor Sturm der einzige in Deutschland, der sich an die mit vielen
Tabus besetzte "psychiatrische Chirurgie" wagt - denn die hat eine
dunkle Geschichte, die bis in die dreißiger Jahre zurückreicht und
in den siebziger Jahren in Skandalen endete. Mit der sogenannten "Lobotomie"
verstümmelten Chirurgen, Psychiater und sogar medizinische Hilfskräfte
das Gefühlsleben zehntausender Patienten. Aggressivität, Wahn, und
Halluzinationen verschwanden, aber mit ihnen auch der innere Antrieb - viele
Kranke vegetierten Jahrzehnte vor sich hin, leicht zu pflegen, aber nicht selbständig
lebensfähig. Die OP an . ist rechtlich gesehen ein "Heilversuch"
- das heißt, es gibt noch keinen sicheren Beweis dafür, dass sie
hilft. Heilversuche dürfen nur bei Kranken angewandt werden, bei denen
alle zugelassenen Therapieverfahren versagt haben. Sturm implantiert . einen
sogenannten "Hirnschrittmacher" an einer wichtigen Schaltstelle im
Gehirn. Einer Schaltstelle, die nach Sturms Theorie in der Entstehung von Zwangsgedanken
und Tics eine wesentliche Rolle spielt. Der Hirnschrittmacher sendet elektrische
Impulse an diese Schaltstelle, unterbricht die Fortleitung von Nervenreizen
- und soll so die Zwänge und Tics zum Verschwinden bringen. Hirnschrittmacher
werden heute standardmäßig in der Behandlung von Parkinson-Patienten
eingesetzt - in der psychiatrischen Chirurgie sind sie neu. Sturms OP-Methode
ist zwar nicht "zugelassen", aber es gibt schon Hinweise, dass sie
wirkt: Neun bisher als unheilbar geltende Patienten mit Zwangs- und Angsterkrankngen
hat Sturm operiert - das Ergebnis: Vier Patienten sind geheilt oder zumindest
soweit gebessert, dass sie wieder normal leben können. Beflügelt vom
Erfolg, will Sturm in diesem Jahr zwanzig weitere Patienten operieren - im Rahmen
einer international angelegten Studie.
Für Galileo tritt Professor Sturm erstmals mit dem Thema "psychiatrische
Chirurgie" vor die Kamera. Dass der Neurochirurg sich möglicherweise
vernichtender Kritik aus Fachkreisen aussetzt, wurde dem Galileo-Team schon
bei den Dreharbeiten deutlich: die psychiatrische Klinik, die . seit zehn Jahren
erfolglos behandlet, verweigerte jegliche Stellungnahme vor der Kamera, verbot
auch Dreharbeiten mit auf ihrem Gelände und verkehrte von Anfang an ausschließlich
auf schriftlichem Wege mit der Redaktion. Sogar der Anästhesist der Uniklinik
Köln, der mit Professor Sturm zusammenarbeitete, bestand darauf, nicht
gefilmt zu werden. Neben . tritt im Film eine früher schwerst zwangskranke
Patientin erstmals vor die Kamera, die seit drei Jahren mit dem Hirnschrittmacher
lebt und seitdem als geheilt gilt.
Weitere Informationen:
Die im Beitrag gezeigte Tiefenstimulation durch Hirnschrittmacher bei psychischen
Erkrankungen (Zwangs- und Angststörungen) ist - trotz eines als gering
bezeichneten OP-Risikos - bisher eine Ausnahme-Therapie. Es gibt wichtige Anhaltspunkte
für ihre Wirksamkeit, aber es fehlen klinische Langzeitstudien. Die Tiefenstimulation
ist laut Professor Volker Sturm nur geeignet für Menschen mit schwersten
Zwangs- oder Angststörungen, in Ausnahmefällen auch für Patienten
mit dem sogenannten Gilles-de-la-Tourette-Syndrom - und zwar nur dann, wenn
alle anderen, zugelassenen Therapiemethoden nachweislich versagt haben. Professor
Sturm bittet deshalb Patienten mit minder schweren oder noch nicht ausreichend
therapierten Störungen, sich zunächst an Fachärzte bzw. Kliniken
für Psychiatrie und Psychotherapie zu wenden.
Kontakt zu Professor Sturm, dem Operateur:
Klinik für Neurochirurgie der Univ.Köln
Chefarzt Prof. Dr. Volker Sturm
Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie
Joseph-Stelzmann-Str. 9
50931 Köln