Traumkultur
der Senoi
Im Dschungel von Malaysia lebt ein kleiner Stamm von
Ureinwohnern - die Senoi - bei denen die Traumarbeit im Mittelpunkt des
täglichen Lebens steht. Träume werden unter Leitung eines Therapeuten
in der Gruppe erzählt, analysiert und in Form von Tagträumen
(in einem entspannten Zustand) positiv umgeträumt. Ziel
der Traumarbeit ist es, Herr des eigenen Traumreiches zu werden
- auch in dem Sinn, daß Erkenntnisse aus der Traumarbeit in aktives
Handeln und kreative Arbeit im realen Leben umgesetzt werden.
Die Senoi pflegen ihre Traumkultur nach mündlichen Überlieferungen
bereits seit vielen Jahrhunderten. Und so sieht ihre Traumarbeit praktisch
aus: jeden morgen beim Frühstück werden zuerst von den Kindern,
dann von den Erwachsenen die Träume der vergangenen Nacht berichtet.
Für die Senoi ist das Traumerleben genauso wichtig und real, wie
das Erleben der Wirklichkeit. Sie betonen, daß ein Mensch in seinen
Träumen die Kraft hat, das in seiner Seele wahrzunehmen, was er sonst
hinter Fassaden versteckt hält. Der Mensch kann sein tiefstes Selbst
und seine größte kreative Kraft dann erleben, wenn seine seelische
Dynamik vom unmittelbaren Kontakt mit der Umwelt befreit ist - also im
Traum. Die archaische Kraft der Bilder-Traumsprache setzt Emotionen in
Gang und damit verbundene Handlungsprozesse. Alle Gestalten werden
als Teile des eigenen Selbst gesehen. Ein wichtiger Kernpunkt der Traumarbeit
ist die Gestaltbarkeit der Träume. Oberstes Ziel der Traumarbeit
ist es, Herr des eigenen Traumreiches zu werden, d.h. Kontrolle
und Zusammenarbeit mit allen Kräften und Gestalten erreichen zu können
und somit Herr seiner Selbst zu sein. Die Folge ist, daß Gefühle
von hilflosem Ausgeliefertsein an übermächtige Kräfte einer
aktiven Auseinandersetzung mit diesen Kräften weichen und der Selbsteuerung
Platz machen. Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Senoi eine Reihe
von Kriterien für ihre Arbeit entwickelt:
1. Auseinandersetzung mit der Angst
Der Träumer muß sich allem, was in der Innenwelt auftaucht
und Angst macht, stellen und sich damit auseinandersetzen. Ausweichen
oder Weglaufen bedeutet für die Senoi, dieser Gefahr in immer neuen
Gestalten wieder zu begegnen. Den Traumfeind überwinden
dagegen heißt, sich selbst zu überwinden und die Verknotungen
von Angst und Aggression im eigenen Inneren aufzulösen. Möglichkeiten
der Auseinandersetzung bestehen darin, freundliche Gestalten zu Hilfe
zu rufen oder den Traumfeind anzugreifen, ihn zu besänftigen, ihn
zu zähmen, zu überlisten oder mit ihm zu kämpfen und ihn
notfalls zu töten. Denn mit dem Tod des Traumfeindes wird sein positiver
Wesenskern freigesetzt und er verwandelt sich in eine hilfreiche Kraft.
Begegnet der Träumer Kräften, die stärker sind als er selbst,
z.B. dem Sog eines Strudels, so soll er sich dieser Kraft hingeben und
ihr nachgehen, bis auf den Grund. Er weiß, daß er nie fremden
bedrohlichen Kräften ausgeliefert ist, sondern immer nur seinen eigenen
Energien.
Im Tagtraum gibt es keine Traum-Opfer. Und durch die Tagtraumarbeit
nehmen die Gefühle von Angst, Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit, Schmerz,
Leid und Beschämung ab.
2. Positives Ende des Traumes
Negative Trauminhalte sollen in positive umgewandelt werden. Tauchen erfreuliche,
positive Inhalte auf, so versuchen die Senoi, sie zu steigern und noch
intensiver erlebbar zu machen. Begegnet ein Senoi freundlichen Gestalten,
so lautet die Empfehlung, intensiven Kontakt mit ihnen zu pflegen und
sie eventuell sogar zum Traumbegleiter zu machen. Jeder Senoi hat mindestens
einen Traumbegleiter, der ihm hilfreich zur Seite steht.
Zärtlichkeiten oder sexuelle Begegnungen mit unterschiedlichen Traumgestalten
werden vollkommen tabulos gefördert.
3. Mitbringen eines Traumgeschenkes
Jeder Träumer wird aufgefordert, etwas Kreatives von seiner Traumreise
mitzubringen und es mit der Gruppe zu teilen. Damit werden Gaben
im doppelten Sinne des Wortes angesprochen: als Geschenk und als Begabung,
die in jedem als kreative Stärke vorhanden ist. Besonders eindrucksvolle
Schöpfungen werden von mehreren Gruppenmitgliedern eingeübt
- ein Lied z.B. oder ein Tanz, oder sie werden auf handwerkliche Weise
umgesetzt, in Form von Holzschnitzereien oder Gebrauchsgegenständen.
4. Der Träumer findet seine eigen Lösung
Der Therapeut hilft vor allem, den Kristallisationskeim für den Tagtraum
herauszuarbeiten. Er hält sich weitgehend zurück, da die individuelle
Ausgestaltung des Tagtraumes für den Betroffenen das Wesentlichste
ist. Tauchen allerdings besonders angsteinflößende Gestalten
auf, kann der Traumbegleiter unterstützend eingreifen.
Somit werden alle zwischenmenschlichen Schwierigkeiten in der Familie
und in der Gruppe thematisiert und durchgearbeitet. Kinder lernen von
frühester Jugend an, ihre tiefsten Empfindungen zu zeigen, zu teilen
und mit den unterschiedlichsten Möglichkeiten der Konfliktbewältigung
zu experimentieren. Jedes Krankheitssymptom wird von den Senoi auf diese
Weise sofort bearbeitet und auch alle wichtigen Aktivitäten der Gruppe,
wie z.B. Feste oder der Bau neuer Hütten werden durch die Traumarbeit
beeinflußt.
Die Traumkultur der Senoi ist insofern äußerst kreativ, indem
jedes einzelne Gruppenmitglied lernt, sein eigenes Selbst zu gestalten
und immer einen Teil davon als Geschenk in die ganze Gruppe einzubringen.
Wie wirkt sich nun diese Traumkultur auf das praktische
Leben der Senoi aus?
Die Senoi hatten seit rund 300 Jahren keine Auseinandersetzung mit Nachbarstämmen.
Auch innerhalb der Familien und der ganzen Gruppe gibt es kaum Anlaß
für Reibereien. Gewaltverbrechen aggressiver oder sexueller Art kommen
nicht vor, auch keine Diebstähle oder Raubüberfälle. Kopfjägerei,
Kannibalismus und Marterungen sind unbekannt. Die Senoi sind erstaunlich
gesund, einige Stämme sogar immun gegen Malaria. Geisteskrankheiten
wurden nicht beobachtet. Schläge und alle anderen Formen, körperlicher
Bestrafung sind tabu. Es gibt keine starren Gesetze, Gefängnisse,
keine Polizei und keine psychiatrischen Anstalten. Familie, Wirtschaft
und Politik gründen sich auf demokratische Grundsätze. Weiter
zeichnen sie sich durch ein hohes Maß an psychischer Integration
und Reife des Gefühlslebens aus. Lebe deinen Traum
- so verabschieden die Senoi im Dschungel einen Freund. Bleibt nur zu
hoffen, daß die westliche Zivilisation die Bräuche der Senoi
nicht überrollt und ihre Traumkultur verschwunden sein wird, bevor
wir begriffen haben, welcher Schatz sie ist.
Diese Umgehensweise ist der Synergetik Therapie sehr ähnlich. Sie
sehen, die Innenwelt muß keine Angst machen und Geister
müssen nicht bekämpft werden. Sie sind innere Anteile mit evolutionär
langer Geschichte. Forscher jedoch, die die Senoi besuchten, vergleichen
diese Traumarbeit mit dem Katathymen Bilderleben nach Professor H.C.Leuner,
der eine stark reduzierte Form vor vierzig Jahren als Therapie für
psychosomatische Krankheiten eingeführt hat. Die Forscher sind der
Ansicht, daß die Imagination bei den Senoi dadurch sensibilisierend
wirkt, daß der Träumer stufenweise mit immer schwierigeren
Bildern konfrontiert wird und ihnen standhält. Desensibilisierung
bedeutet jedoch unsensibler werden - abtöten. |